Am Samstag 15. Juni 2019 startet wieder die Tour de Suisse und damit wird einmal mehr die Frage nach den Sorgfaltspflichten bei Überholmanövern von Radrennfahrern aktuell. Auch das Bundesgericht hatte sich damit zu befassen. Im konkreten Fall hatte während eines Amateur-Radrennwettbewerbs ein Rennteilnehmer in der Abfahrt mit einer Geschwindigkeit von 70 km/h den Anführer der Spitzengruppe überholt und diesen beim Überholmanöver berührt. Infolge dieser Berührung wurde der Sturz des Gruppenführers sowie weiterer nachfolgender Fahrer verursacht. Ein Mitfahrer starb an den Folgen des Sturzes, die Anderen erlitten Körperverletzungen. Das Bundesgericht hatte die Frage zu klären, ob sich der überholende Radrennfahrer sorgfaltspflichtwidrig verhalten hatte und deshalb wegen fahrlässiger Tötung sowie wegen fahrlässiger Körperverletzung zu verurteilen sei. Nach Ansicht des Bundesgerichts berge jede Sportart in sich ein sportartspezifisches Grundrisiko, so auch der Radrennsport. Realisiere sich dieses sportartspezifische Grundrisiko, sei von einer strafrechtlichen Ahndung abzusehen. Im Radrennsport bestehe ein höheres Verletzungsrisiko, welches auch schwere oder gar tödliche Verletzungen in sich berge, dies insbesondere beim sog. Windschattenfahren und Überholmanövern. Bei bewilligten Radrennen komme auf der Rennstrecke das SVG nicht direkt zur Anwendung, weshalb nach Auffassung des Bundesgerichts vom Teilnehmer eines Radrennens nicht die gleiche besondere Rücksichtnahme bei Überholmanövern zu erwarten sei, wie von einem regulären Strassenverkehrsteilnehmer. Massgeblich für die Beurteilung der Sorgfaltspflichten bei Radrennen seien die Reglemente der Radsportverbände sowie die sportartspezifischen Usanzen im Wettkampf. Im Radrennsport sei es wettkampfübliche Usanz, dass die Radrennfahrer bei Überholmanövern und beim Windschattenfahren (auch in Abfahrten) selbst bei hohen Tempi sehr geringe Abstände zu Mitfahrern einhalten und damit das erhöhte Risiko für Berührungen und dadurch ausgelöste Stürze bestehe. Teilnehmer von Radrennen müssen also mit dem sportartspezifischen Risiko von Berührungen und schweren Stürzen rechnen. Erst wenn die Grenze des sportartspezifischen Risikos über-schritten wird (z.B. durch aggressives, aussergewöhnliches oder übermässig gefährdendes Verhalten), kann dies zu einem sorgfaltspflichtwidrigen Verhalten führen, für welches der Fahrer zur Rechenschaft zu ziehen wäre. Im konkreten Fall hatte der überholende Fahrer jedoch die Grenze des sportartspezifischen Risikos nicht überschritten, weshalb von einer Verurteilung abzusehen war.
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Quellen: BGer 6B_261/2018, 6B_283/2018, 6B_284/2018 v. 28.01.2018
Autorin: Cornelia Arnold / 12. Jun. 2019, 11:42