Das Bundesgericht bestätigt im Urteil BGer 4A_76/2019 erneut das bisher gültige Prüfungsschema für die Duldungs- und Anscheinsvollmacht. Vor allem im Baurecht ist diese Problematik immer wieder von prozessualer Bedeutung; denn es kommt häufig vor, dass der Bauherr im Nachhinein für Handlungen seines Architekten oder Bauleiters nicht einstehen will.
Wenn sich die Werkvertragsparteien auf einen Pauschalpreis einigen, so ist das Werk zum festgelegten Preis zu erstellen, unabhängig davon, ob die Erstellung des Werks schliesslich einen grösseren Arbeitsaufwand vom Unternehmer benötigt. Dem Unternehmer steht aber eine zusätzliche Vergütung zu, sofern eine Bestellungsänderung zu diesem Mehraufwand geführt hat. Dass genannter Mehraufwand aufgrund einer Bestellungsänderung erforderlich wurde, hat die Partei zu beweisen, welche die Zusatzvergütung fordert.
Die Bauherrschaft ist meist nicht ständig auf der Baustelle anwesend oder hat selbst nicht ausreichend Zeit und Kenntnisse, um sich um alle Belange rund um den Bau selbst zu kümmern. Deshalb verlassen sich viele Bauherren auf die von ihnen beauftragten Fachleute wie Architekten und Bauleiter. Diese Bevollmächtigung bewirkt, dass der Vertreter (d.h. der Architekt oder Bauleiter) rechtserhebliche Tätigkeiten mit Wirkung für den Vollmachtgeber (d.h. den Bauherrn) vornehmen darf. Hierfür bedarf es einer internen Vollmacht zwischen Bauherr und Architekt oder Bauleiter. Fehlt zwar eine solche ausdrückliche Vollmacht, können die Handlungen des Vertreters dennoch ihre Wirkung für den Bauherrn entfalten, wenn dieser die Handlungen des Bevollmächtigten im Nachhinein genehmigt oder zum Schutz von Drittpersonen, wenn diese aufgrund eines ausdrücklichen oder konkludenten Verhaltens des Bauherrn auf eine solche interne Vollmacht schliessen durften und dies auch ausdrücklich tun.
Es bestehen mehrere Voraussetzungen, dass eine solche «Scheinvollmacht» Gültigkeit hat. So hat der Bevollmächtige diese Vollmacht, welche jedoch über die intern tatsächlich erteilten Befugnisse hinausgeht, dem Dritten zur Kenntnis gebracht. Dabei richtet sich die Wirkung der externen Kundgabe nicht nach dem Willen des Vollmachtgebers, sondern ist in Art. 33 Abs. 3 OR geregelt. Der vorrangige Gutglaubensschutz Dritter führt dazu, dass sich der Vollmachtgeber seiner Kundgabe nicht bewusst sein muss. Diese Mitteilung muss ihm nur objektiv zurechenbar sein. Selbst eine stillschweigende Vollmachtserteilung ist durch Duldung oder durch das Erwecken des Anscheins der Duldung möglich. Von dieser externen Duldungsvollmacht ist immer dann auszugehen, wenn der Vollmachtgeber vom Auftritt des Bevollmächtigen Kenntnis hat, aber gegen dessen Auftreten in seinem Namen nicht einschreitet. Eine externe Anscheinsvollmacht liegt immer dann vor, wenn der Vollmachtgeber das Verhalten des Bevollmächtigten zwar nicht kannte, aber bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit hätte erkennen und dieses Verhalten dann auch hätte verhindern können. Andererseits ist für das Vorliegen einer «Scheinvollmacht» der gute Glaube des Dritten, dass eine solche interne Vollmacht vorliegt, notwendig. Dabei hat der mutmassliche Vollmachtgeber zu beweisen, dass der Dritte bösgläubig handelte oder die notwendige Aufmerksamkeit nicht an den Tag legte.
Im Sachverhalt, den das Bundesgericht im Urteil BGer 4A_76/2019 zu beurteilen hatte, hat der Architekt, welcher die Kostenvoranschläge unterzeichnete und Rechnungen visierte, in fremdem Namen – im Namen des Bauherrn – gehandelt. Jedoch verfügte er nicht über eine interne Vollmacht um Bestellungsänderungen vorzunehmen. Allerdings liess der Bauherr den Architekten in seinem Namen den Vertrag mit dem Generalunternehmer abschliessen und übertrug ihm die Bauleitung. Auch war der Architekt berechtigt, anlässlich der Bausitzungen Regiearbeiten zu genehmigen. Damit war die ausdrückliche interne Vollmacht, um Bestellungsänderungen vorzunehmen, obsolet und der Bauherr duldete die Vertretungshandlungen seines Architekten. Somit wurde die externe Duldungsvollmacht stillschweigend kommuniziert. Der Anspruch auf eine Mehrvergütung zufolge der Bestellungsänderungen war aufgrund dieser externen Duldungsvollmacht gegeben.
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Autor: Michael Endres / 10. Feb. 2021, 10: 35